"Regen" von PW

"Regen" von PW

"Es regnet schon wieder", sagt sie leise und dreht sich kurz um, um zu prüfen ob er ihr zuhört.
Sie kniet vor dem Fenster.
"Mh-mh", murrt er hinter seiner Zeitung hervor.
"Weißt du, ich fand den Regen immer sehr interessant. Ich finde, er beruhigt.", sie sieht ihn an.
"Mh-mh", erklingt erneut von hinter der Zeitung.
"Weißt du noch, als wir ihn uns zusammen angesehen haben? Und wie wir damals die letzten Strahlen der untergehenden Sonne in den Pfützen verfolgt haben, als der Regen aufgehört hatte? Wie wir dann auf die Sterne warteten?", ihre Augen giltzern.
Er zeigt keine Reaktion.
"Und weißt du noch, wie du mir jeden Tag sagtest, wie sehr du mich liebst?", sie wendet ihr Gesicht wieder dem Fenster zu, damit er es nicht sehen kann.
"Hast du alle Fenster im Haus zugemacht? Du weißt doch, sonst regnet es rein.", sagt er betont ruhig. "Hier steht nämlich, dass eine Familie in den Urlaub gefahren ist.. Die haben vergessen die Fenster zu schließen, es regnete, alles wurde nass und jetzt ham se Schimmel im Haus.", er sieht kurz auf und betrachtet ihren Hinterkopf.
Sie nickt kurz.
Er wendet sich wieder dem Artikel zu.
Sie schluckt schwer. "Und weißt du noch", beginnt sie mit belegter Stimme "als du mir gesagt hast, wir beide würden immer so leben, als sei es unser letzter gemeinsamer Tag? Wir würden jede Stunde nutzen. Uns jeden Wunsch erfüllen. Die Welt bereisen?". Sie schließt die Augen und ringt um Fassung.
Tropfen laufen über ihr Spiegelbild im Fenster.
"Michelle, fängst du schon wieder an?", er klingt nicht einmal mehr interessiert.
Sie schweigt.
"Findest du nicht, du übertreibst? Wir sind seit 15 Jahren zusammen. Da wird die Liebe alltäglich. Das hab ich dir schon tausendmal erklärt. Oder sollen wir immer noch wie verliebte unreife Teenager Hand in Hand im Park spazieren und uns ständig Küsschen geben? Ich bitte dich!", er lacht kurz, schüttelt den Kopf und blättert eine Seite um.
Sie schweigt.
"Du bist eine erwachsene Frau. Und, sieh dich doch um! Bist du nicht glücklich? Du hast alles was du brauchst! Ein Dach über dem Kopf, ein warmes Bett, Essen auf dem Tisch, ständig neue Klamotten! Ich schufte wie ein Tier, um dir alles bieten zu können! Ist das denn nicht Liebe?", er blättert die nächste Seite um.
Sie schweigt.
"Also reiß dich zusammen!", verärgert murmelt er vor sich hin.
"Nein.", sagt sie leise. "Es ist keine Liebe."
"Du bist wahnsinnig, Michelle. Was willst du noch? Wir haben eine Tochter, die aus unserer Liebe entstanden ist. Und der Sex kommt bei uns auch nicht zu kurz.
Aber begreif doch! Nach der Arbeit bin ich fix und fertig und brauche meine Ruhe!"
Energisch schmeißt er die Zeitung auf den Boden. "Das ist übrigens die Zeitung von gestern! Ich wusste, dass der Artikel mit bekannt vorkam! Wo hast du die von heute hingelegt?"
"Früher wolltest du jede Sekunde an meiner Seite verbringen. Früher warst du nie zu müde, um mich zu umarmen oder zu küssen."
"Michelle, wo ist die Zeitung?"
"Früher sagtest du viele Liebe Dinge. Am Altar versprachst du mir, ewig bei mir zu bleiben."
"Michelle! Hörst du mir überhaupt zu?!"
"Ich war glücklich. Und ich liebte."
"Michelle! Die Zeitung! Jeden Tag das Gleiche mit dir! Wieso soll ich dich noch weiter durchfüttern, wenn du eh zu nichts zu gebrauchen bist!?"
Sie steht auf und dreht sich mit tränennassem Gesicht zu ihm um.
"Mami?", kommt es aus dem Flur.
Ein kleines verschlafenes Mädchen betritt das Wohnzimmer.
"Nora, geh ins Bett!", schreit er.
"Mami... was ist los?", fragt das kleine Mädchen ängstlich und sieht das nasse Gesicht ihrer Mutter.
"Hast du geweint, Mami? Bist du traurig?"
"Es hat geregnet, mein Schatz.", antwortet sie. "Es hat auf Mamis Gesicht geregnet. Sie hat sich zu weit zu den Sternen im Himmel gestreckt. Und der Regen hat ihren Blick getrübt und ihr Gesicht nass gemacht."
"Mami. Du musst aufpassen. Sonst erkältest du dich noch."
Sie nimmt das Kind auf den Arm.
"Ja mein Engel, ich werde aufpassen, dass dir nicht das Gleiche passiert."
Sie geht mit der Kleinen durch den Flur zur Treppe.
Er nimmt einen Schluck Wein.
"Aber Mami,", erklingt die Stimme seiner Tochter "wieso hat Papi dich nicht davon abgehalten, dass Gesicht zum Himmel nach draußen zu strecken? Wollte er, dass du krank wirst?"
Schweigen.
"Nein, er wollte, dass Mamis Träume weggespült werden. Und dass sie nie wieder auf die dumme Idee kommen sollte, nach ihren Träumen und den Sternen zu greifen."
"Hm", macht das Mädchen. "Du solltest auf Papa hören. Bleib lieber zu Hause, wenn es draußen so kalt ist."
"Gute Nacht, Nora."
"Gute Nacht, Mami."
Er stellt das Glas wieder hin und wartet, bis sie zurück kommt.
Sie betritt den Raum und kniet sich erneut vor das Fenster.
"Wieso erzählst du dem Kind solchen Unsinn?", fragt er wütend.
"Damit sie weiß, dass ihre Mami nur gestorben ist, um sich den Wunsch nach den Sternen zu erfüllen."
Und erschrocken fällt sein Blick auf die Leere Flasche Gift neben ihr auf der Fensterbank, die er nicht bemerkt hatte.

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